Wikinger: Im Nebel der Geschichte

Wie Klischees über Wikinger entstanden und warum sie bis heute wirken. Altskandinavistin Verena Höfig erforscht die Wahrheit hinter dem Mythos.

Der Morgen des 8. Juni 793 begann für die Mönche von Lindisfarne vermutlich wie jeder andere. Auf den Klostergründen herrschte reges Treiben, Möwen kreisten über der Insel. Dann tauchten am Horizont fremde Segel auf. Kurz darauf brannten die Holzbauten des Klosters, Reliquien wurden geraubt, Mönche verschleppt oder getötet. Die Kunde des Überfalls verbreitete sich rasch – und mit ihr das Bild der Wikinger als gnadenlose Plünderer aus dem Norden.

Eine comicartige Illustration des Überfalls auf das Kloster Lindisfarne.
Die Plünderung des Klosters Lindisfarne

Als erste schriftlich überlieferte Plünderung durch Wikinger ranken sich auch heute noch Legenden um den Angriff auf das Kloster. Für viele Filme und Serien über Wikinger ist er Startpunkt.

© LMU / Jörn Jakob Peper

Mehr als zwölf Jahrhunderte später wirken diese Bilder noch nach. Doch das, was heute als „die Wikinger“ bekannt ist, ist weniger historische Wirklichkeit als kulturelle Projektion. „Unser Bild von der Vergangenheit sagt oft mehr über uns aus als über das Frühmittelalter“, so Verena Höfig, Professorin für Altskandinavistik an der LMU München. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wer die Wikinger wirklich waren und warum sie sich so gut für Umdeutungen eignen.

Eine überspitzte Illustration eines muskelbepackten Fantasy-Wikingers mit Hörnerhelm, Pelzmantel und großen Waffen.
Ikonisch aber nicht historisch

Gehörnte Helme gehören in der Popkultur zum Wikinger. Doch popularisiert wurde die Darstellung erst im 19. Jahrhundert durch das Bühnenbild in Wagners Oper "Der Ring des Nibelungen". | © LMU / Jörn Jakob Peper

Die Wahrheit hinter den gehörnten Helmen

In der Popkultur werden Wikinger heute fast durchgängig als wilde Krieger mit wettergegerbten Gesichtern, Pelzmänteln und riesigen Äxten inszeniert. Produktionen wie Vikings oder The Northman zeichnen ein Bild von archaischer Männlichkeit und Freiheit. In Videospielen wird der Wikinger zum Charakter, mit dem man sich durch eine Welt schlagen kann, „in der Regeln nicht gelten“, wie Höfig es beschreibt. „Wikinger verkörpern oft eine Abkehr von gesellschaftlichen Normen. Ein Gegenentwurf zu einer Gegenwart, die viele als überreguliert empfinden.“

Auch im Marketing sind die Nordmänner zum Markenzeichen geworden: Bartpflegeprodukte, Fitnessprogramme oder Ernährungsratgeber schmücken sich mit dem Begriff „modern Viking“ und versuchen so Kunden anzulocken. „Wikinger stehen für Kraft, Authentizität und Rebellion“, sagt Höfig. „Diese Ästhetik verkauft sich gut, doch mit der historischen Realität hat sie nur bedingt zu tun.“

Die Gesellschaft im skandinavischen Frühmittelalter war nämlich überwiegend landwirtschaftlich geprägt. Die Menschen lebten als Bauern, Fischer oder Handwerker. Nur ein kleiner Teil zog tatsächlich auf Raubzug. Diese Seefahrer nannten sich víkingr. Eine Tätigkeitsbeschreibung, wie die Altskandinavistin betont: „Wikinger ist nie ein Ethnonym – es ist ein Zustand, kein Volk.“ Zeitgenössische Quellen sprächen eher von Nordmännern oder Dänen, wenn es um die Bevölkerung des skandinavischen Frühmittelalters geht.

»Unser Bild von der Vergangenheit sagt oft mehr über uns aus als über das Frühmittelalter.«

Verena Höfig

Auch das Bild vom blonden Hünen ist stark vereinfacht. Funde aus Handelsorten der Wikinger zeigen eine durchmischte Bevölkerung. Runensteine, Importwaren und Münzen verweisen auf Kontakte von Osteuropa bis nach Byzanz und den arabischen Raum. In skandinavischen Gräbern finden sich Seidenstoffe und andere exotische Objekte. „Die Wikingerzeit war eine Zeit der Bewegung und des Austauschs“, sagt Höfig. „Sie war ethnisch und kulturell wesentlich diverser, als es heutige Klischees vermuten lassen.“

Eine Illustration in der Fantasy-Wikinger mit dem bäuerlichen, historischen Wikingerbild gegenübergestellt wird.
Fakt gegen Fiktion

Heugabel statt Bartaxt: Im medialen Zeitgeist dominiert das Bild des muskelbepackten Räubers, doch in der Realität hatten Nordmänner mehr mit Feldarbeit zu tun, als mit Raubzügen.

© LMU / Jörn Jakob Peper

Das Bedürfnis nach Geschichte

Jenseits der historischen Realität formte jede Epoche ihr eigenes Wikingerbild. Direkt nach der Plünderung von Lindisfarne war dieses vor allem von den Opfern geprägt. Die angelsächsische Chronik und Autoren wie der Gelehrte Alcuin von York entwarfen ein stark tendenziöses Image: „barbarische Heiden aus dem Norden“, ein „furchtbares Zeichen“ und Vorboten des Untergangs. „Andere hätten berichten können, dass es längst Handel mit Skandinaviern gab“, sagt Höfig, „aber überliefert sind vor allem Berichte, die die Nordmänner als apokalyptische Bedrohung in der Geschichte verankern.“

Jahrhunderte später rückte man diese „Barbaren“ in ein anderes Licht. Im späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert entdeckten deutsche Nationalromantiker den Norden als Ursprung der eigenen Kultur. Nach den sozialen Umbrüchen in Folge der napoleonischen Kriege entstand in weiten Teilen des intellektuellen Milieus ein starkes Bedürfnis nach nationaler Selbstvergewisserung.

„Man suchte einen Gegenentwurf zum christlich-abendländischen Kulturideal“, erklärt Höfig. „Der Blick nach Skandinavien bot eine Projektionsfläche, die vermeintlich näher am eigenen Ursprung war.“ In diesem Umfeld wurden die Nordmänner zu heroischen Ahnen eines starken, naturverbundenen Volkes stilisiert. Diese Nordlandschwärmerei, wie Höfig es nennt, zog sich bis ins frühe 20. Jahrhundert und fand ihr Extrem in Nazideutschland.

»Die Nationalsozialisten griffen sehr selektiv auf nordische Motive zurück. Das ist keine Beschäftigung mit Geschichte, sondern die Suche nach einem mythischen Ursprung, der die eigene Ideologie stützen soll.«

Verena Höfig

Alte Mythen, neue Feindbilder

Was als romantische Rückbesinnung begann, wurde im 20. Jahrhundert zur politischen Waffe. Im Nationalsozialismus wurden Motive der Wikingerzeit propagandistisch aufgeladen. Besonders in der SS fanden Runen und Symbole aus der nordischen Überlieferung Verwendung: Zwei Sig-Runen prägten das Emblem der Organisation, die Odal-Rune stand für „Blut und Boden“, und die Tyr-Rune wurde als Zeichen militärischer Tapferkeit genutzt.

„Die Nationalsozialisten griffen sehr selektiv auf nordische Motive zurück“, so Höfig. In Schulmaterialien, Bildbänden und SS-Schriften wurden Wikinger als kriegerische, harte und arische Vorfahren inszeniert – ein bewusst entworfenes Idealbild, das vor allem Kampfbereitschaft und Opfermut vermitteln sollte.

Illustration eines Sportlers, der einen Thorshammer auf seinem Shirt hat und ein Runensymbol auf seiner Tasche.
Thorshämmer und Runensymbolik

Mjölnir, der Hammer von Donnergott Thor, ist ein beliebtes Symbol und wird meist ohne politischen Hintergrund getragen - doch Gruppierungen Rechtsextremer beanspruchen das Symbol für sich. | © LMU / Jörn Jakob Peper

Instrumente der Ausgrenzung

Nach 1945 sind diese Deutungsmuster nicht vollständig verschwunden. Teile der neuen Rechten greifen bis heute auf dieselbe Bildwelt zurück, um ihren Ideologien einen Anstrich vermeintlicher historischer Legitimation zu geben. Thorshämmer, Runen und Götterbilder tauchen in rechtsextremen Szenen und Verschwörungsmilieus auf. Höfig betont: „Das ist keine Beschäftigung mit Geschichte, sondern die Suche nach einem mythischen Ursprung, der die eigene Ideologie stützen soll.“

Parallel zur neuen Rechten, aber mit anderer Zielrichtung, versuchen neuheidnische Bewegungen, wie Asatru („Glaube an die Æsir“), seit den 1970er-Jahren vorchristliche Glaubensformen Skandinaviens wiederzubeleben. „Immer mehr Menschen wenden sich von den etablierten Kirchen ab und suchen eine spirituelle Alternative“, sagt Höfig. Viele Asatru-Anhänger praktizieren ein spirituelles Heidentum mit Jahreskreisfesten, Götterverehrung und Runensymbolik. Häufig spielt auch eine starke Betonung von Naturnähe und Umweltschutz eine Rolle.

Doch die Szene ist heterogen. Ein kleiner, radikaler Teil deutet dieselben Symbole ethnisch um und knüpft an völkische Blut-und-Boden-Narrative an. In diesen Milieus verbinden sich Vorstellungen kultureller Reinheit mit einer ökologisch aufgeladenen Ideologie. „Die große Mehrheit der Menschen tragen Thorshämmer und Runentattoos aus ganz harmloser Begeisterung für die skandinavische Kultur. Solche Überlappungen macht die Symbolik aber so ambivalent“, sagt Höfig, „weil man von außen kaum erkennt, ob jemand Spiritualität meint oder politische Ideologie.“

Illustration einer alternativ gekleideten Neuheidin mit Federn im Haar und einem Baby im Arm.
Heilerin, Priesterin, Zauberin

Gerade im kultischen Bereich nahmen Frauen im skandinavischen Frühmittelalter wichtige Rollen ein. Heute lassen neuheidnische Bewegungen diese Traditionen zum Teil wieder aufleben. | © LMU / Jörn Jakob Peper

Waren Wikinger feministisch?

Die Fantasien von Neonazis oder extremistischen Neuheiden enden nicht bei der Abstammung. Auch das Geschlechterbild wird in einer Zeit genderpolitischer Umbrüche zur Projektionsfläche. In Gruppierungen, die sich auf nordische Männlichkeit berufen, wird der Wikinger zum Inbegriff des unbeugsamen, kampfbereiten Mannes stilisiert – als Gegenfigur zu einer angeblich verweichlichten oder dekadenten, weiblich-dominierten Gesellschaft. In Teilen der sogenannten „Manosphere“ und Alt-Right-Szene zirkulieren Handbücher mit Titeln wie „How to be a modern Viking“, ergänzt um Trainingspläne, Diäten und Frisuren.

Höfig warnt zwar davor, die Wikingerzeit als feministisch zu verklären: „Das war eine patriarchale Gesellschaft.“ Dennoch gab es Räume, in denen Frauen große Macht ausüben konnten – etwa im Kult oder als wohlhabende Witwen mit eigenem Besitz. Frauen konnten sich zudem scheiden lassen und über männliche Vertreter auf politischen Versammlungen Einfluss nehmen. In den isländischen Sagas erscheinen zudem „exceptional women“, die kämpfen oder herrschen. Höfig betont, dass ältere nordische Kategorien weniger zwischen Mann und Frau unterschieden, sondern eher zwischen stark/aktiv und schwach/passiv – Rollen, in die Menschen aller geschlechtlichen Ausdrucksformen fallen konnten.

»Es protestiert kaum jemand, wenn man Wikinger bis zur Karikatur überdehnt – als Sportmaskottchen, Markenlogo oder Werbefigur für Tütensuppe.«

Verena Höfig

Der Wikinger – ein Bild nach Bedarf

Bleibt die Frage: Warum machen sich gerade in der heutigen Zeit so viele Gruppierungen die Wikinger zueigen – und nicht Kelten, Trojaner oder Samurai? Höfig sieht dafür mehrere Gründe. Die nordische Welt liege aus west- und mitteleuropäischer Perspektive in einer Zwischenzone: geographisch entfernt genug, um exotisch zu wirken, aber kulturell nah genug, um als „eigene“ Vergangenheit zu gelten. „Sie heben sich vom christlich-abendländischen Ideal ab, sind aber nicht so fremd wie Samurai oder Mongolen“, sagt Höfig. „Es ist eine Gegenkultur innerhalb des eigenen Kulturraums.“

Dazu kommt ein pragmatischer Faktor: Die historische Wikingerkultur ist klein, überschaubar und lässt sich relativ konfliktfrei aneignen. „Es protestiert kaum jemand, wenn man Wikinger bis zur Karikatur überdehnt – als Sportmaskottchen, Markenlogo oder Werbefigur für Tütensuppe“, sagt Höfig. Gerade diese Unwiderständigkeit mache sie so flexibel: eine Projektionsfläche für Rebellion, ein Symbol für Stärke, ein Identitätsangebot, das von Popkultur bis Alt-Right und Ökofaschismus reicht.

Illustration einer Reihe von unterschiedlichen Menschen, die sich Wikingersymbolik zueigen machen. Ein Sportler mit Runensymbolen auf der Kleidung, eine Neuheidin, ein Heavy Metal Musiker und eine Kinderfigur im Wikingerkostüm.
Wikingersymbolik ist überall

Egal ob auf Kleidung, in Kinderserien, bei Heavy Metal Konzerten oder in spirituellen Praktiken. Entlehnungen aus der Welt der Wikinger finden sich an vielen Stellen im Alltag.

© LMU / Jörn Jakob Peper

Zuletzt spiele laut Höfig auch eine Rolle, dass bereits in den frühesten Beschreibungen der Wikinger ein bewusst überhöhtes Bild von wilden, unberechenbaren Heiden gezeichnet wurde. Es führt also alles wieder zurück nach Lindisfarne: Die martialische Überzeichnung durch die Chronisten erwies sich als anschlussfähig. „Sie eignet sich hervorragend, wenn man – damals wie heute – einen Kontrast zur einer als dekadent empfundenen Gegenwart sucht“, so Höfig. Das gängige Bild der Wikinger zieht seine Kraft also weniger aus ihrer angeblichen Wildheit oder Maskulinität, sondern daraus, dass sie schon immer einen Gegensatz zum Status Quo verkörpern und die Komplexität der Gegenwart durch ein idealisiertes Gestern ersetzen.

Verena Höfig ist Professorin für Altskandinavistik am Institut für Nordische Philologie der LMU.

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